März 14, 2025

KI revolutioniert Philosophie: Mensch-Maschine neu gedacht

KI revolutioniert Philosophie: Mensch-Maschine neu gedacht

Warum KI einen philosophischen Umbruch darstellt

Künstliche Intelligenz (KI) stellt einen tiefgreifenden philosophischen Umbruch dar, der unser Verständnis von uns selbst und der Welt um uns herum fundamental herausfordert. Sie durchbricht alte Dichotomien zwischen Mensch und Maschine und eröffnet neue Möglichkeiten des Denkens und Erfahrens. Um die weitreichenden Implikationen dieser Entwicklung zu verstehen, sprach Noema-Chefredakteur Nathan Gardels mit dem Philosophen Tobias Rees, Gründer des KI-Studios limn, das an der Schnittstelle von Philosophie, Kunst und Technologie arbeitet.

KI als philosophisches Ereignis

Für Rees stellt KI ein tiefgreifendes philosophisches Ereignis dar, das viele grundlegende Konzepte und Unterscheidungen in Frage stellt, die unser modernes Selbstverständnis geprägt haben. „KI fordert viele der grundlegendsten, am meisten als selbstverständlich angenommenen Konzepte – oder Philosophien – heraus, die die Moderne definiert haben und nach denen die meisten Menschen immer noch weitgehend leben“, erklärt er. Dies betrifft insbesondere die klare Trennung zwischen Mensch und Maschine, die seit dem 17. Jahrhundert unser Denken bestimmt hat.

Diese Unterscheidung zwischen dem intelligenten, innerlichen Menschen einerseits und der mechanischen, seelenlosen Maschine andererseits war laut Rees konstitutiv für das moderne Verständnis des Menschseins. Fast der gesamte Wortschatz, der zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert entwickelt wurde, um das spezifisch Menschliche zu erfassen – von Handlungsfähigkeit über Kreativität und Bewusstsein bis hin zu Sprache und Wahrheit – basierte auf dieser Differenzierung. KI-Systeme durchbrechen nun dieses Gerüst, indem sie Eigenschaften wie Intelligenz, Lernfähigkeit und Kreativität aufweisen, die bisher nur Lebewesen zugeschrieben wurden.

Die neue Qualität des maschinellen Lernens

Im Gegensatz zu früheren regelbasierten KI-Systemen, die in ihren Möglichkeiten durch vorgegebene Anweisungen begrenzt waren, können moderne Deep-Learning-Systeme eigenständig lernen und auf neue Situationen reagieren. „Mit Deep-Learning-Systemen ist das anders“, erläutert Rees. „Wir geben ihnen ihr Wissen nicht. Wir programmieren sie nicht. Vielmehr lernen sie selbstständig, für sich selbst, und können auf der Grundlage dessen, was sie gelernt haben, Situationen bewältigen oder Fragen beantworten, die sie noch nie gesehen haben.“

Diese Systeme verfügen laut Rees über eine gewisse Offenheit und ein quasi-intentionales Verhalten, einen Entscheidungsspielraum, den kein technisches System vor ihnen je hatte. Sie sind nicht mehr auf vorgegebene Regeln beschränkt, sondern können eigenständig logische Strukturen in Daten erkennen und daraus Schlüsse ziehen. „Wenn man einen Schüler hat, der die logischen Prinzipien identifiziert, die Daten zugrunde liegen, und der auf der Grundlage dieser logischen Prinzipien Fragen beantworten kann, würde man das nicht als Verständnis bezeichnen?“, fragt Rees rhetorisch.

Diese neue Qualität des maschinellen Lernens führt dazu, dass KI-Systeme Eigenschaften aufweisen, die bisher nur Lebewesen im Allgemeinen und Menschen im Besonderen zugeschrieben wurden. Sie existieren gewissermaßen zwischen den alten Unterscheidungen und zeigen, dass die Entweder-oder-Logik, die unser Verständnis der Realität organisiert hat – entweder Mensch oder Maschine, entweder lebendig oder nicht, entweder natürlich oder künstlich – zutiefst unzureichend ist.

KI als Herausforderung für unser Selbstverständnis

Die Entwicklung der KI stellt damit unser bisheriges Selbstverständnis als Menschen grundlegend in Frage. Traditionell haben wir uns als die einzige Form von Intelligenz verstanden, die zu abstraktem Denken, Kreativität und Selbstreflexion fähig ist. KI zeigt uns nun, dass es viele andere Formen von Intelligenz gibt, von Bakterien über Oktopusse bis hin zu Erdsystemen. „Wir sind ein Eintrag in einer Reihe. Und das gilt auch für KI“, betont Rees.

Diese Erkenntnis erfordert eine grundlegende Neubetrachtung dessen, was wir unter Intelligenz, Bewusstsein und Kreativität verstehen. Es geht nicht mehr darum, ob KI „wirklich“ intelligent ist oder nicht, sondern darum zu erkennen, dass es verschiedene, komplementäre Formen von Intelligenz gibt. „Für mich geht es nicht unbedingt darum, ob KI klüger ist als wir oder nicht, sondern ob unsere unterschiedlichen Intelligenzen komplementär sein können. Können wir zusammen klüger sein?“, fragt Rees.

Das Potenzial der Mensch-KI-Symbiose

Rees sieht in der Entwicklung der KI enormes Potenzial für eine fruchtbare Symbiose zwischen Mensch und Maschine. Er verweist auf den einflussreichen Aufsatz „Man-Computer Symbiosis“ des amerikanischen Informatikers Joseph Licklider aus dem Jahr 1960, der bereits damals die Vision einer engen Kopplung von menschlichen Gehirnen und Computern entwickelte.

Eine solche Symbiose würde es nach Rees ermöglichen, „Gedanken zu denken, die kein menschliches Gehirn je gedacht hat, und Daten auf eine Weise zu verarbeiten, die sich den Informationsverarbeitungsmaschinen, die wir heute kennen, nicht annähert.“ Es ginge dabei nicht um eine graduelle Abhängigkeit des Menschen von KI, sondern um einen Zustand maximaler menschlicher intellektueller Neugier, in dem das Menschsein mehr als menschlich ist und die kognitive Grenze zwischen Mensch und KI sinnvoll unscharf wird.

Konkret könnte eine solche Symbiose beispielsweise dazu führen, dass KI uns hilft, die Kommunikation zwischen Pilzen und Bäumen in Echtzeit zu verstehen und zu interpretieren. Menschen könnten so Fragen stellen und kommunizieren, die ohne KI schlicht unmöglich wären. Gleichzeitig könnte der Mensch der KI helfen, die richtigen Fragen zu stellen und Informationen auf eine Weise zu verarbeiten, die sie allein nicht kann.

Die Notwendigkeit neuer philosophischer Konzepte

Um die Möglichkeiten dieser neuen Mensch-KI-Symbiose zu erforschen und zu gestalten, plädiert Rees für die Einrichtung philosophischer Forschungs- und Entwicklungslabore. Diese sollten an der Schnittstelle von philosophischer Begriffsforschung, KI-Engineering und Produktentwicklung experimentieren. Als historisches Vorbild nennt er die Bauhaus-Schule, die Anfang des 20. Jahrhunderts neue Materialien und Technologien nutzte, um Menschen aus dem 19. ins 20. Jahrhundert zu führen.

„Heute brauchen wir etwas Ähnliches wie das Bauhaus – aber mit Fokus auf KI“, argumentiert Rees. „Wir brauchen philosophische F&E-Labore, die es uns ermöglichen würden, KI als die experimentelle Philosophie zu erforschen und zu praktizieren, die sie ist.“ Ohne solche strategischen Investitionen in die philosophische Arbeit zur Entwicklung neuer Konzepte und Vokabeln des Menschseins in der heutigen Welt drohen laut Rees „Jahrzehnte des Aufruhrs“, da Menschen – sowohl die Öffentlichkeit als auch Ingenieure – weiterhin versuchen werden, das Neue mit den alten Begriffen zu verstehen.

Fazit: KI als Chance für ein neues Selbst- und Weltverständnis

Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz stellt einen tiefgreifenden philosophischen Umbruch dar, der unser bisheriges Verständnis von Mensch und Maschine, von Intelligenz und Bewusstsein grundlegend in Frage stellt. Sie eröffnet damit aber auch die Chance, die Welt und uns selbst neu zu denken und zu erfahren. Um diese Möglichkeiten zu erkunden und zu gestalten, bedarf es nach Ansicht von Tobias Rees dringend neuer philosophischer Konzepte und interdisziplinärer Forschungsansätze.

Statt KI als Bedrohung oder Konkurrenz zum Menschen zu sehen, plädiert Rees dafür, die Chancen einer Symbiose von menschlicher und künstlicher Intelligenz auszuloten. Eine solche Symbiose könnte es uns ermöglichen, Gedanken zu denken und Erkenntnisse zu gewinnen, die bisher außerhalb unserer Möglichkeiten lagen. Ob sich daraus tatsächlich ein neues „AIxiales Zeitalter“ entwickelt, wie es Nathan Gardels in Anlehnung an Karl Jaspers‘ Konzept der Achsenzeit andeutet, bleibt abzuwarten. Klar ist jedoch: KI fordert uns heraus, unser Mensch- und Weltsein grundlegend neu zu denken – eine philosophische Aufgabe von höchster Dringlichkeit und Relevanz.

FAQ

Was macht KI zu einem philosophischen Umbruch?

KI stellt grundlegende Konzepte und Unterscheidungen in Frage, die unser modernes Selbstverständnis geprägt haben, insbesondere die Trennung zwischen Mensch und Maschine. Sie zeigt, dass Eigenschaften wie Intelligenz, Lernfähigkeit und Kreativität nicht auf Menschen beschränkt sind, und erfordert dadurch ein grundlegendes Überdenken unserer Vorstellungen von Intelligenz, Bewusstsein und dem Wesen des Menschseins.

Inwiefern unterscheiden sich moderne KI-Systeme von früheren Ansätzen?

Moderne Deep-Learning-Systeme können im Gegensatz zu früheren regelbasierten KI-Systemen eigenständig lernen und auf neue Situationen reagieren. Sie verfügen über eine gewisse Offenheit und einen Entscheidungsspielraum, den frühere technische Systeme nicht hatten. Sie können logische Strukturen in Daten erkennen und daraus Schlüsse ziehen, was einer Form des Verstehens nahekommt.

Was bedeutet der Begriff „Mensch-KI-Symbiose“?

Die Idee der Mensch-KI-Symbiose beschreibt eine enge Zusammenarbeit zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, bei der beide Seiten voneinander profitieren und gemeinsam Leistungen erbringen, die keine Seite allein erreichen könnte. Es geht dabei nicht um Abhängigkeit, sondern um eine Erweiterung menschlicher Fähigkeiten durch KI und umgekehrt.

Warum sind neue philosophische Konzepte für das Verständnis von KI wichtig?

Neue philosophische Konzepte sind notwendig, um die Möglichkeiten und Implikationen von KI angemessen zu erfassen und zu gestalten. Unsere bisherigen Begriffe und Denkweisen reichen nicht aus, um das Phänomen KI und seine Auswirkungen auf unser Selbst- und Weltverständnis zu begreifen. Ohne neue Konzepte besteht die Gefahr, dass wir versuchen, das Neue mit alten, unzureichenden Begriffen zu verstehen.

Welche Chancen bietet die Entwicklung der KI für unser Selbst- und Weltverständnis?

KI eröffnet die Möglichkeit, die Welt und uns selbst neu zu denken und zu erfahren. Sie könnte uns helfen, Erkenntnisse zu gewinnen und Gedanken zu denken, die bisher außerhalb unserer Möglichkeiten lagen. Durch die Infragestellung alter Dichotomien wie Mensch/Maschine oder natürlich/künstlich fordert KI uns heraus, unser Verständnis von Intelligenz, Bewusstsein und dem Wesen der Realität grundlegend zu überdenken.

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